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KANN ES LEBEN IM CHAOS GEBEN? WIE? Bericht zu Philosophy-in-Concert Nr.4 in Hamburg

Email: info@philosophy-in-concert.org
10.November 2017
Autor: cagentartist
cagentartist@philosphy-in-concert.org

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ÜBERBLICK

Die vierte Philosophy-in-Concert Performance, dieses Mal im Rahmen des Elektria Klangfestivals 2017 in Hamburg. Ein völlig neues Programm, stärkere Betonung des Werkstattcharakters. Sehr positive Resonanz des Publikums.

1. Die Einladung – Elektria Klangfestival Hamburg

Auf Einladung durch ’Costa’, dem ’elektronischen Pastor’ der Kirche St. Johannis Harvestehude  (https://szene-hamburg.com/elektronischer-pastor/) im Rahmen der Elektria Hörlounge 2017 mal aufzutreten, hat es uns am 9.November 2017 nach Hamburg verschlagen, in das Gemeindehaus von St.Johannis-Harvestehude, ein seit Jahren in Hamburg bekannter Ort für experimentelle Musikkunst. Aufgrund der guten Ausstattung des Saales konnten wir mit vergleichsweise ’leichtem Gepäck’ anreisen.

Arbeitsplatz cagentArtist & acrylnimbus. Der Plattenspieler kam später bei der Lounge zum Einsatz.
Arbeitsplatz cagentArtist & acrylnimbus. Der Plattenspieler kam später bei der Lounge zum Einsatz.

2. Titelzauber

Die Veranstaltung war ursprünglich angekündigt worden mit ’Digitale Unsterblichkeit – Vom Verschwinden des Menschen’. Wie schon angemerkt, war das der Titel von Philosophy-in-Concert Nr.2 gewesen.  Als der Titel in der Welt war, wollten wir ihn nicht mehr ändern. Da wir aber kein Programm wiederholen, haben wir einfach an der Vision von Philosophy-in-Concert weitergearbeitet und uns
überraschen lassen, was heraus kommt.

In den letzten Tagen vor dem Konzert schälte sich dann heraus, wie das neue (inoffizielle Thema) lauten würde: Kann es Leben im Chaos geben? Wie?

3. Aus Ordnung wird Chaos

Nach einleitenden Worten konnte man einen Sound hören, bei dem der Anfang in einer Ordnung startet und dann ab der Hälfte in ein zunehmendes Chaos (=Rauschen) übergeht:

SOUND: Von Ordnung zu Chaos

Während der geordnete Klang Strukturen erkennen lässt, eine Regelhaftigkeit, die Erwartungen erlaubt, Planung, lässt der chaotische Klang alles verschwimmen. Jetzt gilt alles, was aber nichts mehr bedeutet. Im Chaos löst sich alles auf. Begründende Erwartungen sind unmöglich. Dazu gab es ein kleines Computerspiel, um den Gedanken zu vertiefen.

4. Zufall und Regel

Eine einfache Netz-Gitter-Welt: Hindernisse (schwarze Felder), Fut- ter (grüne Felder), Akteure (rote Kreise). Dazu ein Energieverbrauch bei den Akteuren, der nur durch Futter ausgeglichen werden kann.
Bild 2: Eine einfache Netz-Gitter-Welt: Hindernisse (schwarze Felder), Futter (grüne Felder), Akteure (rote Kreise). Dazu ein Energieverbrauch bei den Akteuren, der nur durch Futter ausgeglichen werden kann.

Das Computerspiel war absolut minimalistisch: in einer kleinen Netzgitterwelt (’grid-world’) konnte man Hindernisse und Futter positionieren lassen, dazu einen Akteur an einen beliebigen Startpunkt setzen (siehe Bild 2). Für das Verhalten des Akteurs konnte man zwischen zwei Varianten wählen: (i) zufällig
(chaotisch) oder (ii) mit fester Regel. Das Besondere: der Akteur verbraucht zeitabhängig Energie. Wenn er nicht immer wieder durch Futter sein Energieniveau auffrischen kann, muss er sterben.

Das Beispiel mit dem zufälligen Verhalten lies schnell erkennen, dass ein Akteur, der sich rein zufällig verhält, entweder sehr viel Zeit braucht oder in großen Mengen auftreten müsste, wollte er ’zuverlässig’ immer genügend Futter finden.

Bei dem Akteur mit der festen Regel gibt es zwei Fälle: passt die Regel zur Umwelt, dann ermöglicht die Regel dem Akteur eine 100%ige Nutzung der Ressourcen. Passt die Regel aber nicht, dann ist er genauso 100%ig dem Untergang geweiht, sogar radikaler als der Akteur mit dem Zufall; der kann wenigstens ab und zu überleben.

Da die reale Welt sich, wie wir wissen, seit dem Beginn des biologischen Lebens vor mehr als 3.5 Milliarden Jahren, beständig stark verändert hat, können weder reiner Zufall noch starre Regeln erklären, wie sich Leben in einer partiell chaotischen Welt entwickeln konnte. Es braucht irgendwie mehr.

5. Leben Lernen

Die vorausgehenden Akteurbeispiele legen nahe, dass man eine Regel bräuchte, die sich nach Bedarf der verändernden Umgebung anpasst.

Mit einem zweiten kleinen Computerprogramm wurde den Teilnehmern des Abends jeweils drei – vom Computerprogramm erzeugte – einfache Melodien zu Gehör gebracht und darum gebeten, diese relativ zueinander zu bewerten.

Nach jeder Bewertung hat das Computerprogramm dann aus diesen bewerteten Melodien drei neue generiert, die die besten zwei Melodien aus der Vorrunde zu drei neuen Melodien ’verarbeitet’ hat.

Schon nach drei Bewertungsrunden war klar, dass sich tatsächlich schrittweise neue Melodien ergeben, die einerseits Elemente der alten Melodien enthalten, andererseits auch neue Elemente.

Regeln zu haben, die sich aufgrund von Rückmeldungen (Feedback) ändern können, scheint also nicht das Problem zu sein, was aber ist mit dieser Rückmeldung selbst? Wo kommen sie her? Wer macht sie? Was sind die Kriterien für ’Besser’/ ’Schlechter’?

In der modernen Roboterforschung (jenseits der ’dressierten’ Industrieroboter) ist man seit wenigen Jahren auf dieses fundamentale Präferenz-Problem gestoßen und hat bislang noch keine Lösung gefunden; es gibt nicht mal die leiseste Idee, wie man das Problem überhaupt lösen könnte. Die ’Erbauer’ der Roboter, die Menschen, haben selbst bislang ja auch keine Lösung des Präferenz-Problems: Wo wollen wir hin?

Am Akteurbeispiel kann man sehen, dass ein Wissen um die Zukunft letztlich nur möglich ist, wenn man sie schon kennt. Was tut man aber, wenn man sie noch nicht kennt?

Die Geschichte des Lebens auf der Erde zeigt, es gibt nur eine Antwort: um auf Dauer leben zu können, muss man voll ins Risiko gehen, muss Leben riskieren, um Leben zu gewinnen. Dazu muss man kreativ sein, erfinderisch: das Alte ist niemals das Neue; finde etwas Anderes! Risikobereitschaft und Kreativität verlangen mutige Menschen: nach vorne schauen und bereit sein zum Scheitern.

6. Aufbruch ins Unbekannte – Weltraum

Astronaut auf Planet. Diese Abbildung zeigt das Bild, wie es später durch die Lichteffekte von der Lichtkünstlerin überlagert worden ist (siehe un- ten). Während der Performance war das Bild ohne überlagernde Effekte zu sehen gewesen.
Bild 3: Astronaut auf Planet. Diese Abbildung zeigt das Bild, wie es später durch die Lichteffekte von der Lichtkünstlerin überlagert worden ist (siehe unten). Während der Performance war das Bild ohne überlagernde Effekte zu sehen gewesen.

Aktuell stellen sich sehr viele Probleme auf der Erde, bei denen die Menschen, die Menschheit, die verschiedenen Staaten, herausgefordert sind, sich zu klären, wie sie auf diese Probleme in der Zukunft antworten wollen (z.B. Klimaveränderung und ihre Folgen; zunehmende Zerstörung ganze Ökosysteme,
auf deren unser menschliches Leben basiert; globale Umweltverschmutzung (z.B. Plastikmüll), die über die Nahrungskette auch Menschen bedroht, Bevölkerungswachstum
und Ernährung; und vieles mehr).

Für den Abend haben wir das Thema Eroberung des Weltraums aufgegriffen.

Dieses Thema beschäftigte die Fantasie vieler Autoren, Regisseure und Ingenieure seit Jahrhunderten. Weltraum: das ist Faszination und Schrecken zugleich. Es gab einen symphonisch klingenden Sound zum Hören

SOUND: Weltraum-Symphonie

und dazu eine Art Bildergeschichte ohne Worte: die Kuppeln einer Sternwarte, ein Astronom an einem Teleskop, Bilder der Milchstraße und diverse Himmelsfotografien (von dem Astronomen, den man vorher gesehen hatte), dann Bilder von einer
Raumstation und einem einzelnen Astronauten dort (die komplexe Raumstation hatte Jonathan Fritz (Schweden) mit viel Fantasie und Geschick im Rahmen eines Computerspiels gebaut), verschränkt mit den Bildern von Weltraum und fernen Sternen, der Aufbruch zu einem Planeten, das Landen auf diesem Planeten, mit dem Schlussbild eines Astronauten auf Wüstensand mit einem verdeckten Horizont unter einer fremden Sonne (siehe die beiden Bilder 3 und 4. Auch dieses Bild war aus einer Serie von Bildern, die Jonathan Fritz aus dem Computerspiel
heraus generiert hatte.)

Raumfahrer auf Planet. Auch hier im Anschluss an die Performance mit Lichtkunst-Effekten überlagert
Bild 4: Raumfahrer auf Planet. Auch hier im Anschluss an die Performance mit Lichtkunst-Effekten überlagert

7. Gedankenassoziationen

Es begann dann verhalten eine Live-Musik im Hintergrund, zu der dann folgender Text langsam, mit Pausen, gesprochen wurde (während das Schlussbild mit dem Astronauten auf dem fremden Planeten vor einem verdeckten Horizont noch zu sehen war):

1. Ein Mensch landet auf einem fremden Planeten.
2. Der Horizont ist verdeckt.
3. Sinnbild Zukunft.
4. Wir sind im Leben gelandet …
5. auf dem Planet Leben.
6. Die Zukunft ist nicht sichtbar.
7. Um uns herum passiert Vieles:
8. Arbeiten, Fahren, Kochen, Chillen, Lernen, Streit, …
9. Alles hat seine Regeln.
10. Wohin führen diese Regeln?
11. Bringen sie uns an ein Ziel?
12. Kann es im Chaos ein Ziel geben?
13. Welches?

8. Aus Chaos entsteht Ordnung

Chaos wirkt bedrohlich. Und doch sind wir Zeugen, wie im unbelebten Weltraum ein sehr komplexes Leben entstanden ist, aus dem Chaos eine unfassbare Ordnung. Der folgenden Sound ’From Noise2Voice’ illustriert dies an einem Beispiel (Achtung: der Sound dieser Datei ist nicht exakt der gleiche, wie der Sound der Aufführung. Bei der Aufführung wurden live Effekte hinzugefügt; speziell wurde die Chaos-Rausch-Phase verstärkt. Ganz am Schluss hört man einen echten Chor (vorher einen computergenerierten Chor!). Dies ist ein Chor von Väckelsang, einer kleinen Gemeinde in Südschweden, bei einer der wöchentlichen Proben.).

SOUND: Noise2Voice

Die Musikwissenschaften haben im Laufe der Jahrhunderte sehr viele unterscheidende Begriffe zum Klang hervorgebracht: Arten von Klängen, Musikstile, Klanggattungen, Urteile von ’Gut’ und ’schlecht’, und vieles mehr.

Philosophisch betrachtet gibt es eigentlich nur zwei Grundkategorien: Chaos (Rauschen) und Ordnung (erkennbare Strukturen). Die Möglichkeit von Ordnung im Chaos ist das eigentliche Wunder, für das wir bis heute keine letzte Erklärung haben. Wir sind Teil dieses Wunders.

9. Gesprächsbits

Es gab dann zunächst im Plenum, dann aber auch Face2Face, viele spannende Gespräche, und für einige wurde es an diesem Abend in der Musik der
Worte sehr spät.

10. Lichtkunst trifft Philosophy-in-Concert

Die Lichtkuenstlerin Katrin Betge
Die Lichtkuenstlerin Katrin Betge

Diese vierte Performance von Philosophy-in-Concert bekam eine besondere Note durch den Umstand, dass an diesem Abend eine bekannte Lichtkünstlerin, Katrin Bethge (Hamburg), den gesamten Raum mit ihren faszinierenden Effekten in eine bizarr-dynamische Lichtwelt verwandelte, die das Geschehen unserer Performance mühelos einfing und einbettete. Während das Publikum in den vollen Genuss dieses Ineinanders von Lichteffekten und Performance kam, sahen wir von der Bühne aus – verständlicherweise – nur Ausschnitte.

Die Fotos von den Lichteffekten entstanden daher entweder vor oder nach der Performance, zeigen also nur Fragmente.

Statt Hardware ’Chemoware’
Statt Hardware ’Chemoware’

11. Auf ein Neues

Das Team von Philosophy-in-Concert – cagentArtist und acrylnimbus – fühlt sich durch diesen Abend sehr ermutigt, die Vision weiter zu leben. Weitere Ideen gibt es zuhauf 🙂

12. SW-Quellen

Erklärungstexte und den Quellcode zu den benutzten beiden Softwareprogrammen wird es demnächst auf der Seite von emerging-mind.org geben.