Letzte Änderung: 11.Juni 2024
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: info@philosophy-in-concert.org
KONTEXT
Durch einen Hinweis von Tobias (PiC, Xerox Exotique, …) machte ich gestern einen Ausflug zum Klangkunst-Ereignis #090, organisiert von Xerox Exotique im Mousonturm Frankfurt am Main.
IMPRESSIONEN
SKIZZE :Mousonturm, kleiner Veranstaltungsbereich rechts vom Eingang mit kleiner Bühne. Einige Akteure hervorgehoben. Ausführlicher Infos zur Veranstaltung findet man auf der Seite von XEROX EXOTIQUE (xeroxex.de)
Worüber Reden?
Eine Klangkunstveranstaltung wie diese bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte worüber man reden könnte …
Mich treibt seit Beginn von Philosophy in Concert (PiC) die Frage um, wie man Klangräume in der Lebenswelt von Menschen so verorten kann, dass sie nicht wie ‚Fremdkörper‘ wirken, irgendwie ‚losgelöst‘ vom Prozess des Menschen auf diesem Planeten, sondern als ein ‚lebendiger Teil‘ genau dieses real-dynamischen Prozesses sichtbar werden.
Bei Konzerten, die auf geschriebener Musik beruhen (Noten …), dreht sich alles um die Symbolmengen, die jemand produziert hat, die andere in Klänge umsetzen, und vielleicht noch um den, der das ‚Amt des Interpreten‘ innehat und anderen Umsetzern sagt, wie sie umsetzen sollen. Das ‚typisch Menschliche‘ erkennt man dann vielleicht im ‚Hintergrund des Aufschreibens‘, in der Art und Weise des ‚Umsetzens‘ oder des ‚Intepretierens‘, ja und dann die Wirkung der Klangwolke im Raum auf die Menschen, die da sitzen, hören und in sich verschiedene Emotionen verspüren …
Wie viel vom Prozess des Menschlichen zeigt sich in solch einer Ereignisform?
Gesprochen wird dabei fast nie, und wenn schon, worüber will man sprechen? Über die eigenen Gefühle? Über technische Finessen des Geschriebenen? Über die Kunstfertigkeit der Umsetzer? Über die Schönheit einer Stimme? Ja, es ist nicht ganz einfach das Klangraumereignis in den Lebensprozess hinein zu holen. … und doch, es wirkt irgendwie, man erinnert sich, erzählt später, schwärmt vielleicht oder schimpft ….
Der verborgene Mensch
Wechseln wir kurz den Kontext und stürzen uns direkt in die aktuelle weltweite Euphorie vieler Menchen über die neuen Chatbots, die immer mehr Menschen im Alltag faszinieren, Produkte der ‚generativen Künstlichen Intelligenz‘ (chatGPT & Co).
Die Algorithmen hinter der Oberfläche sind vergleichsweise einfach (obgleich der weltweite Einsatz eine beeindruckende Ingenieruleistung zu verdanken ist). Das, was die Menschen vor der Oberfläche fasziniert, ist ‚wie menschliche die Algorithmen sich im Interface zeigen‘. Sie benutzen die Alltagssprache so, wie ‚wir Menschen‘, letztlich sogar besser als die meisten, die davor sitzen. Und — fast unwiderstehlich — sehen viele aufgrund dieser Sprache und dem abrufbaren Wissen ‚hinter der Oberfläche‘ nicht eine simple Maschine sondern etwas ‚Hochgeistiges Menschliches‘. Das, was an diesem Auftritt ‚menschlich‘ ist, das sind allerdings die Worte, Sätze und Texte, die der einfache Algorithmus aus Millionen von Dokumenten zusammen getragen hat, die alle von Menschen stammen. Aus sich heraus kann dieser Algorithmus nicht einen einzigen Satz generieren! Dazu fehlen elementare Voraussetzungen. Das ‚tatsächliche‘ Wunder sitzt vor dem ‚vermeintlichen‘ Wunder: es sind wir Menschen, die wir etwas haben, sind und repräsentieren, was uns selbst kaum noch bewusst ist (wir sind ‚blind durch uns selbst‘), und geraten ins Staunen, wenn simple Algorithmen uns das zeigen, was wir sind … letztlich wie ein Spiegel der Menschheit, aber die meisten merken es nicht; wir begeistern uns für simple Algorithmen und vergessen dabei, dass wir selbst genau dieses Wunder sind, das dies alles hervorgebracht hat, weiter hervorbringt …. erblinden gegenmüber dem realen Wunder, das wir selbst sind, jeder von uns, alle zusammen.
Kollektive Intelligenz – Kollektiver ‚Geist‘ …
Im Fall der Algorithmen spricht man seit langem von ‚künstlicher Intelligenz (KI)‘, andere. moderat von ‚maschinellem Lernen (ML)‘. Nun ist der Begriff der Intelligenz bislang noch nicht wirklich normiert, wenngleich die Psychologie für den Menschen seit ca. 120 Jahren interessante Konzepte von ‚Intelligenz‘ (z.B. den ‚Intelligenzquotienten (IQ)‘) entwickelt und experimentell erforscht hat. Die Kommunikation zwischen Psychologie und Informatik war aber nie sehr systematisch; eher macht jeder ’sein Ding‘. Wie man nun das Verhältnis zwischen ‚menschlicher Intelligenz (MI)‘ und ‚künstlicher Intelligenz (KI)‘ genauer bestimmen soll, ist daher bislang eher schwierig; die Begriffe sind zu vage, nicht normiert. Erschwerend komtm hinzu, dass die ‚eigentlich beein druckenden Leistungen‘ von Menschen nicht seine ‚individuellen Leistungen‘ sind (obgleich diese wichtig sind), sondern all das, was ‚viele Menschen zusammen über lange Zeit‘ zustande gebracht haben bzw. bringen. Der Ausdruck ‚Kollektive Menschliche Intelligenz (KMI)‚ geht in diese Richtung, ist aber vermutlich zu eng, da es ja nicht nur um ‚Verstand‘ geht, sondern genauso viel auch um ‚Kommunikation‘, um ‚Emotionen‘ und ‚Ziele‘. Leider hinkt die Forschung bei dem Thema der Kollektiven Menschlichen Intelligenz bislang weit hinterher. Die Fixierung auf den einzelnen sitzt tief, und dann in Zeiten der künstlichen Intelligenz, wo einzelne Maschinen partiell erstaunliche Leistungen (unter Voraussetzung der kollekteiven Leistungen von Menschen!) erbringen, ist selbst die Erforschung der individuellen menschlichen Intelligenz in den Schatten der Aufmerksamkeit geraten.
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus?
Klangkunst als Fallbeispiel?
Ich war viele Jahre nicht mehr bei einem Klangkunstkonzert gewesen. Aber es gab noch Erinnerungen, verschiedene Aspekte wirbelten durch meinen Kopf.
Der Hinweis von Tobias katapultierte mich aus meinen gewohnten alltäglichen Bahnen hinaus in genau so ein Klangkunstereignis im Mousonturm am 11.Juni 2024, 20:00h.
Wie gesagt, über vieles kann man hier reden. Mir sitzt seit langem diese Frage nach der Dimension des ‚Kollektiven‘ im Miteinander der Menschen im Nacken. Die ‚Gleichschaltung‘ von Menschen durch Algorithmen ist ja nichts Ungewöhnliches. In gewisser Weise wurden wir Menschen durch die herrschenden ‚Erzählungen‘ immer schon ’normiert‘, ‚ausgerichtet‘, und die rasante Ausbreitung moderner ‚Narrative‘ und die Schnelligkeit, mit der Millionen von Menschen sich weltweit einem Narrativ anschließen, ist Fakt. Die meisten Menschen (trotz Studium) sind offensichtlich beim Auftreten von ‚Narrativen‘ erst mal wehrlos, und dann sehr bald so stark ‚eingelocket (locked-in Syndrom)‘, dass sie wie Marionetten die Narrative reproduzieren.
Welche Rolle kann vor solch einem Hintergrund ‚Klangkunst (sound art)‘ spielen? Klangkunst, bei der es nichts ‚Geschriebenes‘ gibt, keinen ‚zentralen Interpreten‘, keine ‚Umsetzer von Geschriebenem‘, sondern, ja, was?
An diesem Abend erschien mir die erste Formation ‚Art Ensemble Neurotica‘ die tiefliegenden Besonderheiten von Klangkunst am breitesten zu verdeutlichen. Bei den beiden Ein-Person Acts, bei denen der einzelne Akteur mit Sound interagierte, den er selbst produziert hat, war die besondere Dimension von Klangkunst nach meinem Eindruck zwar auch da, aber aufgrund des Arrangements eher verdeckter.
Im Fall von Neurotica: Vier Menchen generierten Sound, live, jeweils individuell: Dirk Hülstrunk (narrator) – Michael Junck (digital devices) – Johannes Aeppli (percussion) – Guido Braun (strings & conductor). Jeder Mensch auf der Bühne war als ‚Verursacher‘, ausgestattet mit Instrumenten, die allerlei Soundeffekte erlaubten. Geschriebene Noten gab es nicht; eine wirkliche Probe vorher hatte es nicht gegeben, aber einige Absprachen (Aussage Guido).
Wer weiß, wie vielfältig jeder einzelne unter diesen Bedingungen Klang erzeugen kann, der kann ahnen, dass dieser schier unendliche Raum eine Spannung aufkeimen lassen kann, was denn nun passieren wird?
Die Gesamtheit des Klangs zu beschreiben, die dann 45 Min lang von den Vieren da vorne ausging, ist kaum im Detail zu beschreiben. In keiner Phase hatte man den Eindruck (habe mich direkt danach mit Roland (In der Skizze falsch als Robert) neben mir ausgetauscht (wir kannten uns nicht, war Zufall, dass wir nebeneinander saßen), wir hatten weitgehend ähnliche Eindrücke), dass eine Soundquelle die andere irgendwie übertönt, gar überwältigt; alles wirkte nebeneinander und ineinander in einer irgendwie ‚passenden Form‘, ansprechend, anregend. Man konnte Muster/ Pattern aller vier einzelnen Quellen in einem Miteinander erkennen, auch über längere Phasen, die dennoch schmiegsam waren, ihre Gestalt veränderten. Effekte wie Laut-Leise, Echo, Hall, Verzerrung usw. wirkten nicht als Fremdkörper, sondern wirkten ‚harmonisch‘ … verliehen den einzelnen Quellen einen ‚Charakter‘, der mit den anderen Charakteren einen Gesamteindruck ergab …
Kann man solch ein Arrangement von Klängen ‚rein abstrakt‘ nehmen, losgelöst von ihren Erzeugern? Könnte eine Software ein solches komplexes Klangereingis erzeugen?
Während der Zuhörer zunächst ja nur den erzeugten Klang hört und von dieser Perspektive aus vielleicht nicht sofort entscheiden kann, ob es egal wäre, wer wie diesen Klang erzeugt, so wird aber aus der Perspektive der Erzeugung schnell klar, dass man diese Klänge nicht isoliert sehen kann vom Erzeuger, von den ‚inneren Zuständen‘ des Erzeugers. Letztlich entsteht der Klang im Augenblick, im Ineinadner von ganz vielen Momenten im Innern des einzelnen Akteurs (Menschen), und dieser ist nicht ‚alleine‘, sondern über seine Wahrnehnmung und über viele gemeinsam durchlaufene Klangprozesse verfügt jeder über ein ‚Klangwissen‘, das er mit anderen mehr oder weniger ‚in seinem Innern teilt‘, und von daher kann jeder seine aktuellen inneren Zustände mit diesem ‚gemeinsamen Klangwissen‘ in einen ‚Dialog‘ bringen, und es ist genau dieser innere Dialog (weitgehend unbewusst), der Ansatzpunkte für komplexe Synchronisatsionen bietet, über die ein einzelner alleine, ohne eine gemeinsame Klangeschichte, nicht verfügen könnte. Die entstehenden Komplex-Klänge sind daher nicht einfach nur ‚Sound‘, sondern sie sind eher Manifestationen von inneren Strukturen und Prozessen der Erzeuger, die als ‚Bedeutung‘ intern mit dem äußeren Klang verbunden sind: Klangkunst-Klang ist daher nicht einfach nur Sound, den man hört, er ist vielmehr im vollen Sinne auch eine Art ‚Mitteilung‘ von ‚inneren menschlichen Zustände‘, zudem noch über verschiedenen mitagierenden Menschen verteilt, also ein wahres kollektives Ereignis, das den einzelnen voraussetzt, aber im Geschehen über den Einzelnen weit hinausgeht. In dieser Form von verteilter Klangkunst kann der einzelne sich als ein ‚WIR‘ erleben, das ansonsten unsichtbar wäre.
Postskript
Also, ich habe jetzt das seltsame Gefühl, dass mich die Teilnahme an diesem Klangkunstereignis ein Stück tiefer hinein geführt hat in das große Geheimnis von uns Menschen, wer wir sind, dass wir eine besondere Dimension unsres Daseins in unserer Fähigkeit zum ‚Kollektiven Fühlen, Denken und Handeln‘ haben, die uns ansatzweise aus dem ‚Einzelsein‘ befreit hin zu einem ganz besonderen ‚Wir‘.
Während ein Klangraum ‚authentisch‘ ist, als solcher nicht ‚hintergehbar‘, sind ’narrative Räume‘ — also die Benutzugn von Sprache mit einer unterstellten, aber nicht leicht kontrollierbaren potentiellen Bedeutung — äußerst ‚gefährliche‘ Räume: unterstellte Bedeutungen können falsch sein und — wie wir heute im globalen Maßstab erleben können — sind überwiegend falsch mit entsprechend verheerenden Folgen. Das sich Bewegen in verteilten Klangräumen hat seine ‚Bedeutung‘ ‚in sich selbst‘; das ‚Selbst im Klang miteinander‘ ist nicht hintergehbar; es ist gnadenlos direkt. Vielleicht brauchen wir mehr davon …